Zum ersten Mal hat die EU-Kommission gestern die Ergebnisse ihres neuen Frühwarnsystems veröffentlicht: Der „Alert Mechanism Report“ betrachtet zehn verschiedene Wirtschafts-Kennzahlen der EU-Staaten und sucht nach Anzeichen für gefährliche Ungleichgewichte. Der Report ist Teil des berühmten „Six-Packs“, einer Reihe von Regelungen, mit der die EU-Ökonomien krisenfester gemacht werden sollen.
Neben der Arbeitslosenrate der Länder oder der privaten und öffentlichen Verschuldung schaut das Warnsystem auch auf außenwirtschaftliche Ungleichgewichte: Es löst zum Beispiel Alarm aus, wenn der Weltmarktanteil eines Landes zu sehr sinkt – oder eben, wenn die Leistungsbilanz zu ungleich ist (also, grob gesagt, der Unterschied zwischen Im- und Exporten).
Doch hier misst die Kommission seltsamerweise mit zweierlei Maß: So bekommt ein Land Ärger mit Brüssel, wenn das Leistungsbilanzdefizit mehr als vier Prozent der eigenen Wirtschaftsleistung (BIP) ausmacht. Wer dagegen Überschüsse macht, also mehr exportiert als importiert, dem wird erst dann näher auf die Finger geschaut, wenn der Überschuss mehr als sechs Prozent beträgt.
Aber was soll das? Eigentlich sollten die Grenzwerte doch gleich sein, denn Langzeit-Ungleichgewichte destabilisieren die Weltwirtschaft, so oder so. Eine Pressesprecherin von Währungskommissar Olli Rehn schreibt mir, hohe Defizite seien gefährlicher als hohe Überschüsse, weil sie die Kreditwürdigkeit eines Staates schmälerten und die ganze Eurozone in Gefahr bringen könnten – Überschüsse dagegen nicht. Aber das überzeugt mich nicht, denn das Zuviel des einen einen ist gleichzeitig das Zuwenig der anderen.
Wem die unterschiedlichen Grenzwerte nützen, zeigt sich auf Seite 18 des dicken Tabellen-Stapels, den die Statistiker der Kommission hinten an ihren Bericht getackert haben: Deutschland nämlich, dessen Überschuss zwischen 2008 und 2010 genau 5,9 Prozent betrug. Dass die Grenzwerte von -4 und +6 kein Zufall sind, sondern tatsächlich dem wissenschaftlichen Standard entsprechen, wie die Kommission in einer Fußnote schreibt – man kann es bezweifeln.
Auf Seite 18 finden sich übrigens auch die vergangenen Drei-Jahres-Durchschnitte für den deutschen Leistungsbilanzsaldo. Sie zeigen: Deutschland macht seit mehr als neun Jahren regelmäßig Überschüsse, liefert also Waren ins Ausland und bekommt dafür Schuldscheine.
Schade eigentlich, wir hätten das Geld auch für mehr Importe ausgeben können. Und 5,9 Prozent des BIPs sind eine ganze Menge, nämlich rund 150 Milliarden Euro.